Grit Dörre

Offene Gedanken

Grit Dörre
www.grit-doerre.com


„Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein!“
Diesen Kommentar las ich vor etlichen Jahren im Treppenhaus eines unsanierten Hauses, das überwiegend von Studenten bewohnt wurde. Wie treffend und prägnant, dachte ich damals. Wie begrenzend und eng, heute.

Wie offen bin ich? Was zeichnet einen offenen Menschen aus?
Betrachtet nicht ein jeder die Welt durch die Brille seiner eingefärbten Meinung? Die sich aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen speist, den schlechten wie guten? Und die früher oder später in Stein gemeißelt sein wird?

Statt nach einer Definition zu schauen, suche ich eine Antwort in mir und bin überrascht, dass mir meine Erinnerung Begegnungen hervorkramt, die mich stark beeindruckt hatten. Geprägt allesamt durch eine heitere Unvoreingenommenheit, einer faszinierenden Balance aus Neugier und Zurückhaltung, einer ganz besonderen Herzlichkeit und der beneidenswerten Gabe, gute Fragen zu stellen. Macht vielleicht die Summe dieser Attribute einen offenen Menschen aus? Dem anderen weiten Herzens und klaren Verstandes begegnen, ihn vorurteilsfrei sehen und hören zu können, in all seinen Befindlichkeiten, unausgesprochenen Sorgen und Wünschen? Oder macht ihn erst die Bereitschaft, sich selbst zu zeigen zu einem offenen Menschen? Oder könnte sich Offenheit auch schon in einem (Augen)Blick eines Menschen verraten, dessen Weg man zufällig kreuzt?

Als ich eines Tages bemerkte, dass ein solcher Blick sowohl alles zurückhalten als auch alles preisgeben kann, wie spannend wurde plötzlich jedes Portrait für mich. Und welche Herausforderung. Ich begann die Menschen intensiver zu beobachten, Nuancen wahrzunehmen, in denen sie agierten, gestikulierten, stumm blieben, lächelten oder die Stirn runzelten. Ich nahm wahr, wie sie auf mich reagierten. Blieb ich zurückhaltend, blieben auch sie reserviert. Öffnete ich mich, parierten sie dies mit persönlichen Erfahrungen, munteren Geschichten oder unverhohlener Skepsis.

Standen sie dann vor meiner Kamera, empfand ich sie oft verändert, nicht selten zurückhaltend und unsicher. Ich fragte mich, wie es gelingen kann, diese Diskrepanz zu überwinden. Immerhin begegnen sich zwei Fremde, treffen Fotograf und Model zum ersten Mal aufeinander. Und was möchte man einem Fremden in wenigen Minuten vor der Kamera preisgeben? Welche Nähe überhaupt zulassen?

In kurzer Zeit für eine Atmosphäre zu sorgen, in der man sich nahezu vertraut, wenigstens aber gut aufgehoben fühlt, hatte mich niemand gelehrt, als es darum ging, das richtige Licht zu setzen und mit Schärfe/ Unschärfe die Feinheiten eines Portraits herauszuarbeiten. Doch ist DAS nicht die primäre Aufgabe eines Fotografen? Und ist es da nicht hilfreich, für alles offen zu sein?

Sicher gibt es viele Wege und meine Vorstellung von Offenheit ist nur einer von ihnen. Humor vielleicht ein anderer. Doch interessieren mich mit zunehmendem Alter vor allem die ungeschminkten Begegnungen mit Menschen. Ihr Werdegang, ihre Sichten, die Art, wie sie die großen und kleinen Herausforderungen des Lebens gemeistert oder umschifft haben, an ihnen verzweifelt sind oder aus ihnen gelernt und dabei die Lust auf Neues nie verloren haben. Und wie aufregend ist es zu sehen, wie dieses Interesse den einzelnen aus der Masse (er)hebt, ihn individualisiert und ein vertrautes Verhältnis schafft.

Ist es also das pure Interesse am anderen, das die Scheu voreinander ablegen lässt? Das einen Menschen bewegt, sich einem anderen zu zeigen, ganz gleich ob vor oder hinter, mit oder ohne Kamera? Und wenn ja, wie oft haben wir eigentlich solche Begegnungen? In denen uns ein Fremder die Tür einen Spalt öffnet und einlädt einzutreten ...

12. Juli 2021